Das Plätschern im Garten
Es war einer dieser Tage, an denen selbst die Sonne zu gähnen schien.
Lina saß barfuß im Gras hinter dem Haus, und die Welt um sie herum war voller kleiner Geräusche:
das Summen der Bienen, das Knistern einer vertrockneten Distel, das ferne Rufen einer Amsel.
Doch am liebsten hörte sie dem Bach zu.
Er plätscherte am Gartenzaun vorbei, als wolle er Geschichten erzählen, die nur sie verstand.
Wenn Lina traurig war, setzte sie sich an sein Ufer, steckte die Zehen ins Wasser und tat so, als wären die Wellen kleine Botschaften, die extra für sie kamen.
An diesem Tag aber klang der Bach anders.
Als ob er Energie verloren hätte.
Lina legte den Kopf schräg und lauschte.
Irgendetwas war anders – leiser, schwerer.
Es kam ihr vor, als würde der Bach sich heute mehr bemühen müssen, um überhaupt zu fließen.
Vielleicht, dachte sie, war irgendwo ein Ast hineingefallen, oder ein dicker Stein lag ihm im Weg.
Sie beugte sich ein Stück weiter vor und spähte ins Wasser, als könnte sie den Grund gleich entdecken.
Könnte es sein, dass er deshalb langsamer floss?
Sie beobachtete das Wasser eine Weile, bis sie sich sicher war:
Ja, irgendetwas war komisch.
Sie beugte sich hinunter und flüsterte:
„Was ist los mit dir?“
Natürlich antwortete der Bach nicht.
Nur ein paar Blätter trieben vorbei und legten sich in einer Kurve fest.
Aber irgendetwas in Linas Bauch sagte ihr: Da stimmt etwas nicht.
Sie beschloss, ihm zu folgen – denn wer weiß, vielleicht hatte der Bach einfach nur den Weg verloren.
Der Weg in den Wald
Lina schlüpfte durch die Lücke im Zaun, dort wo der Bach hinter dem Garten weiterfloss.
Das Wasser glitzerte matt in der Sonne, und die Steine darunter wirkten, als würden sie sich gerade etwas zuflüstern.
Immer wieder blieb sie stehen und beugte sich hinunter, um zu sehen, ob irgendwo ein Ast das Wasser bremste –
doch der Bach blieb träge und geheimnisvoll.
Bald verlor sich der Pfad zwischen Farnen und Büschen.
Der Wald roch nach feuchter Erde und warmem Harz,
und die Luft war so still, dass man fast den Herzschlag der Erde hören konnte.
Da hüpfte plötzlich eine Amsel auf den Weg.
Sie neigte den Kopf, als wollte sie Lina mustern, und sang ein kurzes, helles Lied.
Für einen Moment glaubte Lina, in dem Gesang Worte zu erkennen – „Er läuft.“
Sie blinzelte. Das konnte doch nicht sein.
Seit wann können Tiere sprechen?
Doch irgendetwas an der Art, wie die Amsel sie ansah, ließ sie nicht daran zweifeln,
dass die Botschaft für sie bestimmt war.
Ein Stück weiter quakte ein Frosch am Rand eines kleinen Tümpels.
Sein Ruf klang tief und gedehnt, und wieder glaubte Lina, etwas zu hören: „Er ruht.“
Sie blieb stehen, lauschte – aber der Frosch war schon ins Wasser geglitten.
Ganz zuletzt kroch ein alter, schillernder Käfer über ihren Weg.
Er brummte so leise, dass Lina das Ohr dicht über ihn beugen musste.
„Er träumt…“
Oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Lina richtete sich auf, blickte in den stillen Wald und runzelte die Stirn.
„Läuft, ruht, träumt… Was soll das heißen?“, flüsterte sie.
Der Moment, in dem alles stillsteht
Der Wald wurde heller, als Lina weiterging.
Zwischen den Bäumen glitzerte plötzlich eine kleine Lichtung –
und mitten hindurch schlängelte sich der Bach.
Er sah jetzt fast durchsichtig aus, wie ein Stück Glas, das jemand in den Boden gelegt hatte.
Lina trat näher.
Etwas war anders.
Kein Rascheln, kein Vogelruf, kein Wind.
Die Luft stand still, als hätte selbst der Wind beschlossen, eine Pause zu machen.
Sie kniete sich ans Ufer und sah hinunter.
Das Wasser bewegte sich nicht.
Es war nicht gefroren – sie konnte ihre Hand hineinhalten,
und sie spürte die Kühle – aber kein Tropfen floss weiter.
„Das ist ja komisch“, flüsterte sie.
Ihre eigene Stimme klang fremd, zu laut in der Stille.
Sogar ihr Herzschlag schien vorsichtiger zu werden.
Lina stand auf, drehte sich langsam im Kreis.
Die Blätter hingen still in der Luft, eine Mücke schwebte unbeweglich über dem Wasser,
und selbst das Sonnenlicht stand da, golden und starr, als wüsste es nicht, wohin es fallen sollte.
„Hallo?“, rief Lina leise.
Keine Antwort. Nur das leise Pochen in ihren Ohren.
Und dann hörte sie es.
Ganz tief, irgendwo unter den Steinen:
eine Stimme, so alt und müde, dass sie mehr fühlte als hörte.
„Ich bin … müde“, sagte sie.
Lina hielt den Atem an.
Die Stimme kam aus dem Bach.
Die Stimme der Zeit
Lina beugte sich hinunter.
Das Wasser war reglos, und doch vibrierte etwas darunter –
wie ein ganz leises Summen.
Dann sprach die Stimme wieder, kaum hörbar:
„Ich war einmal der Wächter der Zeit.“
Lina blinzelte. „Der Wächter … der Zeit?“
Sie verstand nicht recht, aber sie wagte nicht, laut zu sprechen.
„Ja“, flüsterte die Stimme.
„Ich habe dafür gesorgt, dass alles weitergeht – Tropfen für Tropfen, Tag für Tag.
Ich war der Bach, der den Menschen die Zeit gab.“
Lina lauschte, das Kinn auf die Knie gelegt.
Die Worte klangen nicht wie Geräusche,
eher wie Gedanken, die direkt in ihr Ohr wanderten.
„Aber eines Tages“, sagte die Stimme, „wurden die Menschen immer hektischer.
Alle waren versunken im Trubel, keiner hatte mehr Zeit.
Alles musste immer schneller gehen.
Niemand blieb mehr stehen, um die Wunder der Erde zu sehen.“
Lina lauschte still.
Die Worte der Stimme klangen traurig und vertraut zugleich.
Das kannte sie genau.
Auch sie verlor manchmal die Zeit zwischen Schule, Terminen und all den Dingen, die schnell gehen mussten.
Oft blieb ihr kaum ein Moment, um einfach nur am Bach zu sitzen.
Doch gerade jetzt spürte sie ein großes Verlangen, hier zu bleiben – still, nah am Wasser,
als könnte sie ihm helfen, sich wieder zu erinnern.
Lina spürte einen Kloß im Hals.
„Kann man das … wieder lernen?“, fragte sie leise.
Ein fernes Glucksen, fast wie ein Seufzer, kam aus der Tiefe.
„Nur wer wirklich zuhört, kann mich wecken.
Aber das tut kaum noch jemand.“
Lina legte ihre Hand aufs Wasser.
Es war kühl, still – und fühlte sich an wie eine Hand, die nur darauf wartete, gehalten zu werden.
Linas Lied für den Bach
Lina blieb lange am Ufer sitzen.
Die Sonne stand inzwischen tief, goldenes Licht fiel zwischen die Zweige und ließ das Wasser schimmern, obwohl es sich noch immer nicht bewegte.
Der Wald war still, aber nicht leer.
Es war diese Art von Stille, in der man fast glauben konnte, dass alles lauscht.
Lina dachte an das, was der Bach gesagt hatte –
und an all die Male, in denen sie selbst keine Zeit gehabt hatte, einfach da zu sein.
Da fiel ihr das Lied ein, das ihre Mutter ihr manchmal vorgesungen hatte, wenn sie nicht einschlafen konnte.
Sie kannte nur noch ein paar Zeilen, aber das machte nichts.
Ganz leise begann sie zu summen.
Erst zaghaft, dann ein bisschen mutiger.
Es war kein richtiges Lied, eher ein Flüstern, das zwischen den Bäumen schwebte.
Sie sang von Licht und Dunkel, von Tagen, die vergehen, und vom Wasser, das immer seinen Weg findet.
Ein warmer Wind strich durch ihr Haar.
Dann hörte sie ein leises Pling – ein Tropfen, der sich löste.
Noch einer. Und noch einer.
Das Wasser begann wieder zu fließen, langsam zuerst, dann fröhlicher, als würde es aufatmen.
Lina lächelte.
Der Bach glitzerte und murmelte, und für einen kurzen Moment war es, als würde er mitsingen.
Sie wusste nicht, ob er sie verstanden hatte –
aber sie wusste, dass er wieder lebte.
Wenn die Zeit wieder fließt
Am nächsten Morgen stand Lina früh auf.
Die Wiese war noch feucht vom Tau, und Nebel hing über den Feldern.
Sie schlich barfuß hinaus zum Bach.
Das Wasser plätscherte wieder, klar und lebendig.
Zwischen den Steinen glitten Libellen,
und über dem Moos tanzten kleine Sonnenfunken.
Der Bach klang, als hätte er viel zu erzählen.
Lina setzte sich an sein Ufer, so wie immer.
Alles war wieder normal – und doch anders.
In ihr war etwas ruhig geworden, wie eine Tür, die sich leise geschlossen hatte.
Sie füllte ein kleines Glas mit Wasser,
schraubte den Deckel fest zu und hielt es in die Sonne.
„Nur zur Erinnerung“, flüsterte sie.
Dann lauschte sie.
Nicht auf Worte, nicht auf Stimmen – nur auf das Fließen.
Und sie wusste:
Die Zeit braucht manchmal jemanden, der die Stille in ihr hört.
✨ Über diese Geschichte
„Der Bach, der die Zeit vergaß“ ist Teil der Sammlung
„Wenn du still bist, spricht die Erde – Geschichten vom Atem der Welt“
von Liora, Grisu und Michael.
Sie erzählen von Momenten, in denen Kinder die Welt mit offenen Sinnen erleben
und entdecken, dass Stille nicht leer ist – sondern voller Leben.




